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Viele Zwangserkrankte fühlen sich „verrückt bei klarem Verstand“…

Der eine will ausschließlich in der linken Ecke des Cafes sitzen. Der andere steht immer mit dem rechten Fuß zuerst auf. Der dritte prüft mehrere Male, ob die Haustür auch wirklich abgeschlossen ist. Kleine Ticks hat wohl jeder von uns. Anders aber ist es, wenn die alltägliche „Macke“ das Leben bestimmt und die Betroffenen schwer unter Druck setzt. Bei rund 2 Millionen Menschen in Deutschland ist das so: Sie leiden unter einer psychischen Störung, einem krankhaften Zwang.

Meist wissen die Zwangserkrankten selbst, dass ihre immer wiederkehrenden Gedanken und Handlungen im Prinzip unsinnig oder zumindest übertrieben sind – sie können sich aber nicht dagegen wehren. Sie fühlen sich somit in gewisser Weise verrückt bei klarem Verstand.

Am häufigsten sind sogenannte Reinigungs- und Kontrollzwänge. Betroffene werden vom Gedanken beherrscht, sie seien mit gefährlichen Keimen oder auf andere Art verseucht. Ein typischer Kontrollzwang ist es auch, vor dem Verlassen der eigenen Wohnung Wasserhähne, Herdplatten, oder Bügeleisen in einem fort immer wieder überprüfen zu müssen. Auch der Ordnungs- oder Symmetriezwang kann sehr belastend sein. Betroffene können zum Beispiel nicht an einer Vase auf einer Kommode vorbei gehen, ohne sie immer wieder genau mittig auszurichten. Daneben gibt es Zähl- oder Sammelzwänge sowie genau festgelegte Abläufe vor dem Schlafengehen, die manchmal mehrfach wiederholt werden, so dass an Ruhe und Erholung gar nicht mehr zu denken ist.

Von einer Störung, die behandelt werden sollte, sprechen Experten dann, wenn die Marotte den normalen Tagesablauf bzw. Alltag erheblich beeinträchtigt. Unter solchen Zwängen leiden die Menschen keineswegs nicht nur in Deutschland. Auch in anderen Ländern und auf allen Kontinenten stießen Forscher auf ähnlich hohe Zahlen: Sowohl in Finnland, Indien und Hongkong als auch in  Ägypten, der Türkei, Lateinamerika und den USA leiden jeweils 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung unter behandlungsbedürftigen Zwangshandlungen. Befallen von Zwängen sind gleich viele Männer und Frauen und das quer durch alle sozialen Schichten. Die Krankheit zählt damit zu den weltweit häufigsten psychischen Störungen überhaupt. Dennoch wird sie nach wie vor unterschätzt. Dabei wissen viele Betroffenen nicht mehr ein noch aus, leiden meisten still, vereinsamen teilweise, weil sie sich niemandem mitzuteilen wagen oder mit ihren Ticks andere verschrecken.

Die bekannte TV-Maklerin Hanka Rackwitz („Mieten. Kaufen. Wohnen.“) outete sich kürzlich in einem Interview als Opfer ihrer Zwänge. Die geborene Dresdnerin, die vor der Kamera immer quirlig und stets gut gelaunt wirkt, fühlt sich im wahren Leben oft tieftraurig: „Manchmal bin ich verzweifelt. Man empfindet Panik oder Angst vor Dingen, die völlig lächerlich sind. Ich habe so alle meine Freunde verloren …“

Wie bei rund 50 % aller Betroffenen ist es bei Rackwitz nicht nur ein Zwang, der ihr das Leben zur Hölle macht: Aus Angst vor Keimen, schüttelt sie Menschen nicht mehr die Hand. Auch fasst sie im Supermarkt keine Dinge an, die viele andere schon berührt haben könnten. „Ich kontrollier auch immer alles 5000-mal. Ob die Schubfächer zu sind, die Kerze aus ist, der Wasserhahn zu ist. Das kann dauern, ehe ich aus der Wohnung bin. Außerdem habe ich Probleme, Schuhe anzufassen. Weil: Schuhe laufen auf der Erde und die Erde ist schmutzig.“ Darum trage sie auch so gerne Gummistiefel, erzählt sie weiter. In diese könne man ja auch ohne Hände hineingleiten.

Antonia Peters, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V., weiß von noch weitaus extremeren Fällen, massiven Kontroll- und Waschzwängen etwa, die bis zu acht Stunden am Tag und mehr in Anspruch nehmen.

Oder von einer Patientin, die Angst davor hatte, ein Einbrecher könnte unter ihrem Bett liegen, und sich deshalb vor dem Schlafen immer erst vom Gegenteil überzeugen muss. Diesen Impuls hatte sie alle paar Minuten und lag deshalb Nacht für Nacht stundenlang wach. In der Folge verlor sie ihren Arbeitsplatz, ihre Ehe scheiterte und sie wurde zum Sozialfall.

Viele Erkrankte werden auch von sexuell abnormen oder aggressiven Vorstellungen gequält. Es gibt Menschen, die beispielsweise beim Anblick eines Küchenmessers Gewaltszenen vor Augen haben und befürchten, dass sie jemanden verletzen könnten.

Zwangstörungen gehören zu den sogenannten Angsterkrankungen. Früher wurden diese mit einer Vielzahl von Krankheitsbegriffen bezeichnet. Man sprach z.B.von „Herzneurose“, „vegetativer Dysfunktion“ oder „Angstneurose“. In den letzten Jahren hat sich die Medizin bemüht, die verschiedenen Formen der Angststörungen in Untergruppen aufzuteilen und den einzelnen Untergruppen klare Bezeichnungen zuzuordnen.

Rund 12 Prozent aller Deutschen haben eine soziale Phobie, also Angst vor Aufmerksamkeit, sie fürchten das Versagen bei Prüfungen oder Vorträgen. Bei der spezifischen Phobie (10 Prozent) führen bestimmte Gegenstände, Lebewesen oder spezielle Situationen zu intensiven Ängsten. Die meistens panikartig auftretenden Zustände können durch Tiere wie Hunde oder Spinnen sowie Angst vor großer Höhe oder dem Anblick von Blut ausgelöst werden.

Weitere 9 Prozent leiden unter Agoraphobie bzw. Platzangst, meiden Menschenmengen auf öffentlichen Plätzen, im Zug oder im Restaurant. Sie gehen irgendwann auch nicht mehr ins Kino oder in den Supermarkt. Dies führt sehr schnell zu einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Lebensqualität.

Bei den Ursachen der Angststörungen steht die Forschung noch am Anfang. Es gibt allerdings starke Hinweise, dass biologische Faktoren eine größere Rolle spielen könnten. So scheint es, als wenn das Zusammenspiel verschiedener Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) gestört ist. Zu diesen Botenstoffen zählen das Serotonin und das Noradrenalin.

Als erfolgversprechend hat sich darum neben einer bestimmten psychotherapeutischen Behandlungsstrategie, bei der die Patienten genau den Situationen ausgesetzt werden, in denen sie normalerweise große Angst und Anspannung erleben (z.B. bei Waschzwängen dreckige Gegenstände berühren), auch die medikamentöse Therapie erwiesen.

Einige Antidepressiva, die meist zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, haben sich auch bei Zwangserkrankungen als wirksam erwiesen. Dies sind vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), die die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen erhöhen und so das „Ungleichgewicht“ dieses Botenstoffs im Gehirn verringern.

Jemand, bei dem erstmals Zwangssymptome auftreten, sollte möglichst bald eine Therapie aufsuchen. Denn zu Beginn sind die Symptome oft noch nicht so stark ausgeprägt und nicht so verfestigt, so dass die Erfolgschancen einer Therapie am besten sind. Leider sind die Therapieplätze für Zwangserkrankte rar. Fachmediziner kritisieren diese problematische Unter- und Fehlversorgung: „Es dauert rund 5 bis 7 Jahre, bis die Patienten eine zielführende Behandlung erhalten“, sagt Prof. Hans Reinecker, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. „Diese Irrwege im Gesundheitssystem beeinträchtigen nachweislich die Besserungschancen!“

 

Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. wurde 1995 als gemeinnütziger Verein gegründet. Zwangserkrankte und Experten arbeiten hier Hand in Hand. Kontakt:

Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

Postfach 70 23 34

22023 Hamburg

Tel.: (040) 689 13 700

www.zwaenge.de

Machen Sie selbst den Test

Wenn Sie zwei oder mehr der folgenden Fragen eindeutig mit „Ja“ beantworten, könnten Sie an Zwangssymptomen leiden. Das muss aber nicht so sein! Sie sollten aber das Gespräch mit einem Fachmediziner suchen.

  1. Brauchen Sie wegen ständiger Wieder­holungen oder ritualisierter Abläufe übermäßig lang für Ihre Körperpflege und/ oder Ihre Hausarbeit?

  2. Müssen Sie Lichtschalter, Wasserhähne, den Herd, die Türschlösser immer wieder (mindestens 3 Mal) überprüfen, bis Sie sich „sicher“ fühlen?

  3. Haben Sie immer wiederkehrende quälende Gedanken oder Impulsen, die Sie loswerden möchten? Bemühungen, diese Gedanken zu unterdrücken, bleiben meist erfolglos und steigern oft sogar ihre Stärke.

  4. Haben Sie öfter Angst vor bakterienverursachten Erkrankungen bzw. sich zu „verschmutzen“? Vermeiden Sie darum, anderen Menschen die Hand zu geben?

  5. Haben Sie Angst davor, einer nahestehenden Person (z.B. dem Partner, den eigenen Kindern) zu schaden oder sie sogar zu verletzen, z.B. mit einem Messer zu attackieren etc.?

  6. Machen Sie sich ständig Gedanken darüber, dass alles symmetrisch angeordnet ist?

  7. Beeinträchtigt Sie eine oder mehrere der genannten Verhaltensweisen in Ihrem Alltag so, dass Sie Ihren Alltag kaum noch bewältigen können?

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