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Carola Kasten aus Radbruch trägt ein Hörimplantat

Musik spielte immer eine große Rolle in Carola Kastens Leben. Ihr Mann war neben dem Beruf begeisterter Musiker, sie besuchten zusammen gerne Konzerte und hatten eine große Plattensammlung. Doch schon mit 50 Jahren bemerkte die Radbrucherin, dass ihr Gehör nachlässt. Schleichend geriet sie in die Isolation. Erst 20 Jahre später wagte sie den großen Schritt: Sie ließ sich ein Cochlea-Implantat einsetzen. Es begann mit Kleinigkeiten, die sie nicht mehr hören konnte. Die heute 73-Jährige erinnert sich noch gut, wie erstaunt ihr Mann war, als sie das Miauen ihres Katers an der Terrassentür nicht mehr wahrnahm. Das ist schon mehr als 20 Jahre her. Der HNO-Arzt schickte sie zum Akustiker, Hörgeräte sollten Abhilfe schaffen. Doch mit ihnen freundete sie sich nie richtig an, auch wenn sie anfangs mit ihnen zurechtkam. „Ich habe erst nur ein Hörgerät bekommen, später ein zweites”, erzählt sie. „Nach einer gewissen Zeit habe ich das Linke ganz weggelassen und mindestens fünf Jahre nur rechts ein Hörgerät getragen.” Ihr schien, als könne ihr bei ihrem linken Ohr nichts mehr helfen. Auch an Carola Kastens Familie gingen ihre Hörprobleme nicht vorbei. Ihr Sohn und ihre Tochter, heute 47 und 45 Jahre alt, drängten auf Abhilfe. Ein Freund ihres Sohnes brachte die Lösung als erstes in die Familie: ein Cochlea-Implantat. Der Freund, der bei einem Hörimplantate-Hersteller arbeitete, gab ihr Infomaterial, doch das ließ Carola Kasten lange liegen. Das war bereits 2005. 

Elektrische Impulse ans Gehirn

Wie funktioniert ein Cochlea-Implantat? Die medizinischen Geräte sind für Menschen mit schwerer bis hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit gedacht. Bei dieser Art von Hörverlust sind die Haarzellen im Innenohr beschädigt und können Schallinformationen nicht richtig verarbeiten und weiterleiten. Ein Cochlea-Implantat umgeht die defekten Haarzellen und sendet die Schallinformationen in Form von elektrischen Impulsen an den Hörnerv beziehungsweise das Gehirn, wo sie als Klänge wahrgenommen werden. Ein Cochlea-Implantat(CI)-System besteht aus zwei Hauptkomponenten: dem Audioprozessor und dem Implantat. Der Audioprozessor wird extern getragen. Er nimmt die Schallinformationen auf und sendet sie an das Implantat. Dieses sitzt hinter dem Ohr unter der Haut und verarbeitet die Informationen weiter. Immer wieder brachte ihre Familie das Thema auf, doch Carola Kasten war noch nicht bereit. „Ich sollte nicht mehr so lange warten, damit sich nicht alles noch mehr verschlechtert”, sagt sie, „aber ich habe das Material weggelegt, ich wollte es noch nicht.” Lange habe sie der Gedanke beunruhigt, das Implantat unter die Haut gesetzt zu bekommen, wofür hinter dem Ohr eine Mulde in den Knochen gefräst wird. Immer wieder sagte sie sich, sie könne ja alles noch gut bewältigen. Carola Kasten half sich mit kleinen Tricks, um gut durch den Alltag zu kommen. In größerer Runde, in der sie den Gesprächen akustisch kaum folgen konnte, war ihr Mann ihr Assistent. Filme sah sie im Fernsehen mit Untertiteln, im Kino im Original mit Untertiteln. „Ich habe zwar etwas gehört, es aber nicht verstanden”, sagt sie rückblickend, „es war nicht die Lautstärke, sondern das genaue Verstehen.” Bei ihren regelmäßigen Theaterbesuchen verstand sie schon sehr früh nichts mehr. „Da hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können, das hat mich frustriert.” Auch in ihrer Englischgruppe und ihrer Frauenrunde musste sie ständig nachfragen, was allen auffiel. „In meiner Englischgruppe sagten sie, lass Dich operieren, aber ich wollte es nicht hören. Ich war bockig und sagte immer, es ist noch nicht nötig.”  

Man bleibt fast stumm

Die Entscheidung für das Cochlea-Implantat nahm Fahrt auf, als ihr Mann 2015 schwer erkrankte. „Er hat sich große Sorgen gemacht, was ohne ihn aus mir werden soll – zu Recht”, erklärt die 73-Jährige. Die Tatsache, dass sie ohne ihren Mann nicht zurechtkommen würde, war schließlich der Anstoß für sie, weitere Schritte einzuleiten. Bis zu ihrem 60. Lebensjahr hatte sich ihre Schwerhörigkeit stetig verstärkt, seitdem hatte sie große Probleme, an Gesprächen teilzunehmen. „Ich habe nichts mehr mitbekommen, dann zieht man sich schon zurück. Mein Mann hat mir immer geholfen, und ich habe selbst gemerkt, dass ich von ihm sehr abhängig war”, erzählt sie. „Man bleibt fast stumm, wenn man bei Festen nichts versteht.” In einem ihrer Befunde vom HNO-Arzt heißt es „an Taubheit grenzend”. Carola Kasten, die seit 1975 in Radbruch lebt, hat seit mehr als 15 Jahren auch einen Wohnsitz in Potsdam. Über Empfehlungen aus Potsdam geriet sie an einen HNO-Arzt in Rostock, einen Experten auf dem Gebiet der Cochlea-Implantate. Dieser sollte zunächst testen, ob Carola Kasten überhaupt für ein solches implantierbares Hörsystem in Frage kommt. Auch dann hätte sie sich immer noch dagegen entscheiden können. Ein MRT und CT waren erfolgversprechend, die Übernahme durch die Krankenkasse gesichert, so dass der Operation nichts mehr im Wege stand.

 

Im Oktober 2017 ließ sich Carola Kasten in der Rostocker Uniklinik das Cochlea-Implantat am linken Ohr einsetzen. Die OP dauerte nur zwei bis drei Stunden, dann blieb sie noch fünf Tage im Krankenhaus. Doch bis der wirkliche Hörerfolg einsetzte, musste sie sich noch gedulden, denn erst nach vier bis fünf Wochen kann man mit der Erstanpassung beginnen. Hierbei wird der Audioprozessor das erste Mal auf das unter der Haut liegende Implantat gesetzt. Danach wird der Prozessor genau auf die Bedürfnisse und das Hörvermögen des Trägers abgestimmt.

Wieder hören lernen

Dann folgt die so genannte Rehabilitation. „Man muss nach der OP wieder hören lernen”, erklärt Carola Kasten. Bei ihr habe der Prozess etwa anderthalb Jahre gedauert, doch besser hören konnte sie fast sofort nach der Aktivierung. In 20 mal zwei Stunden lernte sie mit einem Sprachtherapeuten durch Übungen, Gesagtes wieder zu verstehen, Konsonanten und Sprüche wiederzugeben. Ihre Reha machte Carola Kasten im Hörtherapiezentrum in Potsdam. „Es ist ganz selten, dass man so eine tolle Reha hat, da habe ich Glück gehabt”, meint sie. „Nach anderthalb Jahren hatte ich fast hundert Prozent Hörverständnis.” Sagte man Cochlea-Implantaten früher nach, dass mit ihnen alles blechern klinge, teilt Carola Kasten diese Erfahrung nicht. „Bekannte Stimmen hören sich für mich nicht anders an, und ich kann zum Beispiel die Nachrichtensprecher an der Stimme erkennen, ohne sie zu sehen.” Es waren die Kleinigkeiten, die sie aufblühen ließen: „Ich konnte die Vögel wieder zwitschern hören.” In ihrer Frauenrunde staunten alle, wie schnell und gut sie alles wieder verstehen konnte. Zwar trägt die 73-Jährige weiterhin rechts ihr Hörgerät, doch nötig wäre dies nicht. „Das Hörgerät macht alle Geräusche nur etwas weicher und runder”, führt sie an. Sie weiß, dass man oft an beiden Ohren Cochlea-Implantate einsetze, doch weil das Ergebnis auf ihrer linken Seite so zufriedenstellend sei, wolle sie es dabei belassen. Auch ihr großes Thema Musik geht Carola Kas-ten immer wieder an. Mit dem Hörimplantat klingt die ihr so vertraute Musik nicht wie früher. „Ich versuche immer, alte Sachen zu hören. John Lennon ist gut, weil da wenig Instrumente dabei sind. Big-Band-Musik geht nicht, da gibt es zu viele Instrumente.” Vor der OP hatte sie sich lange nicht mehr mit Musik beschäftigt – nun will sie nicht aufgeben, auch wenn sich in ihren Ohren einige Töne regelrecht falsch anhören. Mit ihrem Mann konnte sie die Begeisterung für Musik nicht mehr lange teilen, er starb im vergangenen Jahr. Ihre Hörerfolge konnte er jedoch noch miterleben. 

Lebensfreude und Selbstbewusstsein

Mit dem besseren Hörvermögen hat Carola Kas-ten ihre Lebensfreude und ihr Selbstbewusstsein zurückerlangt. Rückblickend sagt sie: „Ich habe mir ein bisschen was vorgemacht, indem ich gesagt habe, ich schaff‘ das schon. Meine Ängste waren wirklich unnötig, aber vielleicht wäre die Technik vor zehn, zwanzig Jahren auch noch nicht so weit gewesen wie jetzt.” Sie ärgert sich nicht, dass sie mit der Operation so lange gewartet hat, „ich musste erstmal so weit kommen.” Durch das Cochlea-Implantat nimmt sie ihre Umwelt inzwischen wieder ganz anders wahr. So empfindet sie den Trecker beim Spaziergang über die Felder als extrem laut – und hört plötzlich die Gänse, die über ihr gen Süden fliegen. Auch Flüstern kann sie verstehen. „Ich bin wieder die Alte”, resümiert sie. „Ich habe das Gefühl, wieder wie früher zu hören.” Auch in großen Gruppen komme sie gut klar, sie müsse sich nur ein bisschen mehr konzentrieren. Um ihre Erfahrungen an andere weiterzugeben, die über ein Implantat nachdenken oder in der Reha-Phase einen Ansprechpartner brauchen, hat Carola Kasten inzwischen eine „Hörpatenschaft” im Auftrag des CI-Herstellers MED-EL übernommen (www.hörpaten.de). Sie betreut die über 65-Jährigen per E-Mail, in seltenen Fällen telefonisch. Das Telefon hält sie übrigens links nicht an ihr Ohr, sondern an den Audioprozessor, denn über ihn nimmt sie die Klänge jetzt wahr. Durch ihre Patenschaft für momentan 20 Personen weiß Carola Kasten, dass ihre guten Hörerfolge nach der OP nicht die Regel sind: „Nicht alle machen so gute Erfahrungen wie ich.” (JVE)

„Ich bin wieder die Alte”
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