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Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: wie aus Müttern Monster werden

Nach außen hin sind sie die liebevollsten Mütter, doch hinter verschlossenen Türen misshandeln sie ihr Kind. Es sind Frauen, die am sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leiden. Hinter der Krankheit mit dem sperrigen Namen (auch Münchhausen-by-proxy-Syndrom genannt, kurz MBPS), angelehnt an den bekannten Lügenbaron, verbirgt sich eine Sonderform des Münchhausen-Syndroms. Während bei letzterem die Betroffenen sich selbst Schaden zufügen, um ärztlich behandelt werden zu müssen, machen die Betroffenen des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms andere Menschen absichtlich krank, damit diese eine ärztliche Behandlung brauchen. In den meisten Fällen werden dabei die eigenen Kinder die Opfer – also zum Stellvertreter – für die körperliche Misshandlung. Und in über 90 Prozent sind Mütter die von der Krankheit Betroffenen. Was treibt die psychisch kranken Täterinnen an? Und warum werden sie erst so spät entlarvt? Ob Kinderärzte, Polizisten, Staatsanwälte, erst recht die Öffentlichkeit: Die erste Reaktion auf solche Fälle ist fast immer Entsetzen, Unverständnis. Manchmal Ekel oder Verachtung. Der versagende Mutterinstinkt, die unfassbare Perfidie in der Durchführung verstören. Auch weil MBPS so selten, so wenig erforscht und komplex ist. Und das Mutterbild, das jeder von uns in sich trägt, so völlig auf den Kopf stellt. Es sind Fälle wie diese, die fassungslos machen: In Hamburg brachte eine Mutter ihren dreijährigen Sohn mit verdreckten Spritzen (Fäkalien, Speichel, stinkendem Blumenwasser) an den Rand des Todes. Der Junge war immer wieder in lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert worden, 41,3 Grad Fieber! Eitrige Abs-zesse! Intubiert! Als die Ärzte auf der Intensivstation nicht mehr weiter wussten, versuchten sie es sogar mit einer Chemo-Therapie. Und die Verursacherin saß immer mit am Bett, voller Sorge um ihr Kind… In einem anderen Fall in der Nähe von Berlin nahm eine Mutter, sie arbeitete als Krankenschwester, ihrem Sohn jede Woche einen halben Liter Blut ab. Die Ärzte konnten sich den regelmäßigen Blutverlust nicht erklären, das Kind kam stationär in die Klinik, dort wurde die Mutter auf frischer Tat ertappt. Im Großraum Hannover brach eine Mutter ihrem Kind absichtlich die Arme, eine andere gab ihren Zwillingstöchtern Unmengen an Salz zu essen. Auch Lüneburger Richter mussten sich vor einigen Jahren schon mit MBPS beschäftigen, nachdem eine Frau ihre behinderte Tochter monatelang mit Medikamentencocktails und Abführmitteln gequält hatte.

Suche nach Aufmerksamkeit und Zuneigung

Was treibt diese Frauen zu ihren Taten? Was lässt sie so unglaublich grausam und scheinbar mitleidlos werden? Sie tun das mutmaßlich, um Aufmerksamkeit, Lob und Zuneigung durch Ärzte, Krankenhauspersonal und ihr persönliches Umfeld zu bekommen, sagen Psychologen. Sie tun es aber auch, so erklärt es der Therapeut einer Betroffenen, um einen „unerträglichen inneren Zustand zu regulieren“. Es gibt verschiedene psychoanalytische Theorien zur Natur dieses nur wenig erforschten Syndroms. Eine besagt, dass die Mutter sich mit der Quälerei auch einen Traum erfüllt: den des missbrauchten, vernachlässigten Mädchens, das auf eine Mutter hofft, die ihm zur Seite steht, es schützt, heilt und rettet. Es geht dabei um Projektion: Die Mutter schiebt ihr eigenes seelisches Kranksein (Borderline, Depressionen etc.) quasi in das Kind hinein und behandelt es von außen.

Die Krankheit besitzt drei Phasen:

Phase 1

In Phase 1 berichten die Mütter dem Arzt von Symptomen, die das Kind gar nicht hatte, z.B. epileptische Anfälle, Atemstillstand oder Herz-Probleme.

Phase 2

In Phase 2 fälschen die Mütter tatsächlich Daten und Messwerte, um eine Krankheit des Kindes vorzutäuschen.

Phase 3

In Phase 3 fügen sie dem Kind körperlichen Schaden zu, sei es durch Verletzungen oder die Gabe von Medikamenten, die eine Vergiftung oder Krankheitssymptome auslösen. Auch ein Erstickungsversuch mit einem Kissen ist möglich. Die Therapie des Münchhausen-by-proxy-Syndroms ist keine leichte Angelegenheit. Denn die Betroffenen sind sich selbst meist keiner Schuld bewusst. Vor Gericht gestellt, äußern sich viele Frauen oft ähnlich, beteuern ihre Kinder zu lieben und das auch durchaus glaubhaft. Konkret zu ihren schlimmen Taten befragt, fällt von den Täterinnen fast immer derselbe Satz: „Das war nicht ich…“ (RT) 

Darum wird MBPS so selten entdeckt

  • Die Mütter, oft schwer kranke, potenziell hochgefährliche Frauen, sind meist sehr gute Schauspielerinnen. Sie verschleiern ihr Tun geschickt (auch vor ihren Partnern bzw. den Kindesvätern), präsentieren sich kompetent, hilfsbereit, verständnisvoll
  • Die Mütter kommen oft selbst aus Pflegeberufen oder haben medizinische Vorbildung
  • Die von ihnen erzeugten Symptome bei den Opfern sind unspezifisch und sehr schwer zu diagnostizieren
  • Auch Ärzte und Krankenhauspersonal können sich schwer vorstellen, dass eine Mutter ihr Kind bewusst schädigt. Bei Verdacht zögern sie mitunter (zu) lange, bevor sie ihre Schweigepflicht brechen und die Behörden informieren. Dazu sind sie im Notfall laut § 34 des Strafgesetzbuches und dem „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz“ berechtigt.
  • Eine Videoüberwachung im Krankenzimmer oder einer Privatwohnung ist in Deutschland rechtlich sehr schwer durchzusetzen

Es ist auch darum sehr kompliziert, der Mutter die Tat nachzuweisen.

„Das war nicht ich…“
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